Reform aus der Kirche

Wie in Nr. 82 der Beiträge berichtet, ging mit dem Verfall des Reiches Karls d. Gr. auch ein Verfall in der katholischen Kirche einher. Angesichts der damit verbundenen Missstände wurden in der Kirche, ausgehend von den Klöstern, Stimmen laut, die nach Reform riefen. Dabei kann man grob zwei Quellen unterscheiden, von denen die Reform ausging: Klöster in Lothringen (also im Unterrhein- und Moselgebiet) und das Kloster Cluny im französischen Burgund mit den von ihm beeinflussten Abteien. Die lothringischen Zentren strahlten hauptsächlich nach Deutschland aus, während die Bewegung von Cluny auch in die benachbarten Länder übergriff.
Deutlich sieht man, wie der Reformeifer und die Begeisterung sich immer weiter ausgebreiteten und allmählich die gesamte Kirche ergriffen. Obwohl die Wahrheit Licht ist, folgt daraus nicht notwendig, dass sie von den Menschen angenommen wird. Schon im Johannesevangelium lesen wir: „das Licht leuchtet in der Finsternis, die Finsternis aber hat es nicht ergriffen“ (Jo 1,5). Wenn der Mensch beständig die Wahrheit zurückweist und sich ihr verschließt, dann wird er eines Tages in dieser inneren Haltung verhärten. Das meint die Bibel, wenn sie z.B. sagt, Gott habe das Herz des Pharao verhärtet. Dann kann sich die Wahrheit, obwohl sie Licht ist, nicht ausbreiten. Auf der anderen Seite aber wird eine Bewegung nie dauerhaft Ausstrahlung besitzen, wenn sie nicht den Samen der Wahrheit in sich trägt, wenn sie nicht in der Wahrheit begründet ist, in der Wahrheit, die allein die Kraft des Wachstums in sich hat. Im Falle der Reformbewegung, die damals im Mittelalter von den Klöstern ihren Ausgang nahm, hat Gott zugelassen, dass am Ende die gesamte Kirche von der Bewegung ergriffen wurde. Wollen wir nun einen Blick auf diese Entwicklung werfen. Wir bewegen uns dabei etwa im Zeitraum von 900 – 1070.
Die bedeutendste Reformbewegung des Mittelalters ging von Cluny, einem Kloster nahe der Saône im französischen Burgund, aus. Seine Gründung 910 verdankte es Wilhelm dem Frommen, Herzog von Aquitanien und Graf von Auvergne. Schon in der Stiftungsurkunde legte dieser fest, dass die Abtei allein dem Papst unterstellt werden und das Klostergut dem Zugriff jeder weltlichen oder geistlichen Gewalt entzogen sein solle. Das bedeutete unter anderem, dass die Abtswahl ausschließlich Sache der Abtei war. Diese Unabhängigkeit von anderen Gewalten als dem Papst wird auch Exemption genannt. Anders war die Situation der Reformklöster im lothringisch-deutschen Raum, von denen unten noch die Rede sein wird. Sie waren durch den Schutz der öffentlichen Gewalt dem Einfluss des Diözesanbischofs entzogen und waren daher nicht so sehr auf eine Exemption durch den Papst bedacht.
Wilhelm übergab das Kloster dem für seine monastische Strenge bekannten Berno, Abt von Gigny und Beaume. Berno muss bereits einen sehr guten Ruf genossen haben oder hat ihn sich wenigstens durch seine Tätigkeit in Cluny erworben, denn bald riefen ihn auch andere Herren, ihre Stiftungen zu leiten. Bis kurz vor seinem Tod unterstanden ihm sechs Häuser, die er an seinen Neffen Wido und seinen Schüler Odo aufteilte. Cluny fiel dabei an Odo. Auch Odo wurde von nicht wenigen Klosterherren zur Erneuerung alter und zur Leitung neugegründeter Klöster gerufen, was eine weitere Ausdehnung des Einflusses Clunys mit sich brachte. Insgesamt 17 Niederlassungen unterstanden Odo. Die Nachfolger Odos Aimard (942-954), Majolus (954-993), Odilo (993-1048) und Hugo (1049-1109) verschafften durch ihre große Fähigkeit und ihre lange Amtszeit ihrem Kloster Weltruf. Direkt oder indirekt beeinflusste Cluny nicht nur einen großen Teil der französischen Klöster, sondern strahlte auch bis Italien, mit Beginn des 11. Jhdt. bis Spanien und seit etwa 1050 sogar bis Lothringen, Deutschland und England aus.
Der Geist von Cluny zeichnete sich durch strenge Beobachtung der Regel des hl. Benedikt, harte Askese und besondere Pflege der Liturgie aus. Im Rahmen der Askese stand der Gehorsam gegenüber dem Abt an erster Stelle – ist doch Gehorsam (einer rechtmäßigen Autorität gegenüber) die höchste Form und die Grundlage aller Selbstabtötung. Auch die Aufgabe der Klöster, für die Christenheit, aber auch für die ganze Welt zu beten, nahmen die Cluniazenser ernst. Wenn Klöster zwar äußerlich von der Welt abgeschlossen sind, so sind sie sich dennoch ihrer Verpflichtung für Welt und Kirche bewusst, mag sie auch „nur“ in verborgenem Gebet und Opfer bestehen.
Dass die Disziplin aufrecht erhalten blieb, sollten zwei Elemente sicherstellen: das Recht des Großabtes (des Abtes von Cluny selber), seinen Nachfolger zu bestimmen und so die Weiterführung der Idee sicherzustellen, und die Bildung eines Klosterverbandes.
Dieser Verband wuchs auf natürliche Weise. Die Klöster, die im Geist von Cluny reformiert oder neu gegründet wurden, versuchte Cluny in einer gewissen Abhängigkeit zu bewahren. Die Oberen dieser untergeordneten Abteien mussten dem Großabt gegenüber ein Treuegelöbnis ablegen. Das vereinigende Element war also der Großabt, der durch Visitationen die Tochterklöster in Zucht hielt.
Die Mönche von Cluny wollten also wieder ernst machen mit ihrem Mönchtum. Nur wenn das Mönchtum im wahren Geist gelebt wird, kann es auch ausstrahlen und andere mitreißen. Und nur dann wird die Reform im Kloster auch eine Reform der Kirche bewirken. Das gilt, denke ich, generell von jeder Reform oder Aufbaubemühung. Jeder äußeren Reform muss eine innere vorausgehen. Nur dann besitzt sie die nötige geistige Grundlage und nur dann werden auch die äußerlich durchgeführten Schritte aus der richtigen Motivation heraus unternommen.
Es ist eine bisher nicht gelöste Frage, inwieweit Cluny die ihr folgende gregorianische Reform verursacht oder beeinflusst hat. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang die erzieherische Tätigkeit, die die Cluniazenser dank ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu den führenden Schichten auf diese ausübten. Durch die Bindung Clunys an Rom ist aber auch innerkirchlich ein gewisser Einfluss gegeben. Seit Odo ist vom Heiligen Stuhl immer wieder der in der Gründungsurkunde vorgesehene päpstliche Schutz bestätigt worden. Wenn auch die verschiedenen Abteien nur bis zu einem verschiedenen Grad vom Einfluss des Diözesansystems befreit waren, so machten die diesbezüglich auf den Heiligen Stuhl gesetzten Hoffnungen die Cluniazenser zu Verteidigern der Stellung der Kirche und vor allem des Papstes in der Welt. Abgesehen davon hat Cluny eine Vertiefung des christlichen Lebens erstrebt und erreicht und in diesem Zusammenhang natürlich auch auf die Missstände in der Kirche und die Aufgaben der Kirche in der Lösung dieser Probleme hingewiesen.
Einen weiteren Zusammenhang zwischen Cluny und der gregorianischen Reform erkennt man, wenn man bedenkt, dass Papst Gregor VII., aber auch schon sein Vorgänger Leo IX. aus dem geistigen Umfeld von Cluny kamen (vgl. Beiträge 73). Denn nachdem auch der Weltklerus vom cluniazensischen Eifer ergriffen war, schloss sich auch Papst Leo IX. der Bewegung an. Als er dann auf einer seiner Reisen nach Cluny kam, nahm er einen der eifrigsten Mönche dort mit sich nach Rom, den Mönch Hildebrand (den späteren Gregor VII.). Hildebrand fügte der Reform noch ein neues Element hinzu. Bisher hatte die Reform nur das Mönchtum und den Klerus betroffen. Jetzt aber sollte die Kirche als Ganzes mit hineingezogen werden. Sie sollte frei werden von der weltlichen Gewalt, in deren Abhängigkeit sie vor allem durch die Laieninvestitur so sehr geraten war.
Die Ausstrahlung Clunys beschränkte sich nicht nur auf die ihm direkt unterstellten Klöster. Auch die von seinen Äbten nur für kurze Zeit geleiteten und dann in die Freiheit entlassenen Klöster behielten zu einem guten Teil den cluniazensischen Geist bei, wenn sie auch eigene Züge hinzufügten. Sie wiederum gaben den Geist an andere Klöster weiter. Das 930 durch Abt Odo erneuerte Kloster Fleury-sur-Loire ist z.B. ein für sich stehendes Reformzentrum geworden, das sogar in England zur monastischen Erneuerung herangezogen wurde. Der Einfluss von Saint-Bénigne de Dijon reichte noch weiter, seitdem dort der 990 eingesetzte Wilhelm von Volpiano, Schüler des Majolus, die cluniazensische Strenge in verschärfter Form eingeführt hatte. Seine Reform wirkte sich bis nach Norditalien und die Normandie aus.
Cluny war nicht das einzige Reformkloster. Auch in Lothringen gab es deren viele, wenn sie dort auch voneinander unabhängig waren. Am bedeutendsten war wohl Gorze und Toul an der Mosel. 933 bzw. 934 gegründet, waren beide Zentren von strengem asketischem Geist beseelt. Von beiden Klöstern, vor allem von Gorze, wurden Mönche für die Erneuerung anderer Klöster angefordert. Die Ausstrahlung Gorzes erstreckte sich über die Diözesen Metz, Toul und Verdun hinaus nach Trier, Lüttich und weiter. Durch Dunstan gelangten gorzische Ideen sogar nach England. Selbst Bayern hat einen Teil seines geistigen Erbes dem lothringischen Reformeifer zu verdanken, denn als Bischof Wolfgang von Regensburg die Stiftskirche und das Emmeran-Kloster voneinander trennte holte er sich aus Trier, dessen Maximin-Kloster in enger Beziehung zu Gorze stand, Ramwold als Abt für St. Emmeran. Dank seiner Freundschaft mit Herzog Heinrich, dem späteren Kaiser Heinrich II., wurde Ramwold zum Mittelpunkt einer bayerisch-monastischen Erneuerungsbewegung. Heinrich ließ eine ganze Reihe von Reichsklöstern reformieren: die Abteien Prüm und Reichenau durch Abt Immo von Gorze; Lorch, Fulda, Corvey durch Poppo, der wohl aus St. Emmeran kam, und Hersfeld durch Abt Godehard, der Ramwold nahestand und schon in Niederaltaich und Tegernsee große Erfolge erzielt hatte.
Auch wir, in unserer Bemühung, den wahren katholischen Glauben zu verbreiten, können von den Ereignissen damals lernen. Wir müssen darauf achten, dass unsere Arbeit für den Glauben von einem wahren katholischen Geist motiviert wird. Nur wenn wir diesen Geist in uns lebendig halten, kann er uns die göttliche Kraft verleihen, die in ihm steckt. Den wahren katholischen Geist aber haben wir nur, wenn wir in uns ein lebendiges persönliches Verhältnis zu Gott aufrechterhalten. Nur wenn wir das tun, können wir ein Licht sein für die Welt. Nur dieses Verhältnis zu Gott kann uns über eventuelle Enttäuschungen hinweghelfen. Nur dann hat unser Glaube aber auch die Kraft, die, wenn Gott es so will, auch heute unserem Bemühen den Erfolg verleihen kann, den die Reform von Cluny erleben durfte.

P. Johannes Heyne


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